Grußworte

 

Schätzungsweise fünf Prozent aller Kinder in Deutschland wachsen in Familien auf, bei denen aufgrund ihrer psychosozialen Lebensbedingungen ein hohes Risiko für gravierende Vernachlässigungen besteht. Schätzungsweise werden jährlich 20.000 Kinder in Deutschland Opfer von sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt. Die Dunkelziffer ist sehr hoch.

Der Schwerpunkt dieser Misshandlungen liegt sicherlich in Familien aus sozialen Randgruppen, aber auch in anderen Gesellschaftsschichten ist mangelnde Fürsorge für Kinder zu beobachten.

Um diesen Kindern frühzeitig die notwendige Hilfe zukommen lassen zu können, müssen die Angebote von frühen und aufsuchenden Hilfen verstärkt und soziale Frühwarnsysteme installiert werden. Alle am Kinderschutz Beteiligten – insbesondere Jugendämter, Gesundheitsämter, Ärzteschaft, Schulen und Kindertageseinrichtungen – müssen sich miteinander vernetzen und eng zusammenarbeiten. Kinderschutz muss als Querschnittsaufgabe begriffen werden und ein flächendeckendes multiprofessionelles Netzwerk früher Hilfestrukturen entwickelt werden. Kinderschutz muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden.

Ganz wesentlich in diesen Prozess eingebunden sind die Ärztinnen und Ärzte, da sie häufig als erste Kontakt zu den entsprechenden Familien haben und sie dann in die entsprechenden Hilfsangebote vermitteln können. Daher ist der vorliegende Entwurf eines Kinderschutzgesetzes sehr zu begrüßen, der den Ärztinnen und Ärzten unterhalb der Eingriffsschwelle des Jugendamtes die Möglichkeit gibt, sich über Patienten auszutauschen, um das bei misshandelnden Eltern häufig zu beobachtende Ärztehopping zu verhindern. Die geplante "Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger" soll Klarheit schaffen hinsichtlich der Weitergabe von Informationen an das Jugendamt. Bei gewichtigen Anhaltspunkten für die Gefährdung des Kindeswohls dürfen künftig Informationen an das Jugendamt weitergegeben werden. Das schützt die enge Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient und schlägt gleichzeitig die Brücke zum Jugendamt.

Die Initiative der Techniker Krankenkasse, hier eine Handreichung zur Orientierung bei diesem sensiblen Thema zu bieten, ist sehr zu begrüßen und wird von der Ärztekammer Westfalen-Lippe nachhaltig unterstützt. Mit dem vorliegenden vorbildlichen Leitfaden wird den Ärztinnen und Ärzten eine praktikable Hilfestellung bei der Erkennung von Gewalt gegen Kinder an die Hand gegeben. Er gibt Hinweise zur Diagnose und zu möglichen Ansprechpartnern, wenn der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung vorliegt. Ergänzend zu diesem Leitfaden werden von der Ärztekammer Westfalen-Lippe regelmäßig Fortbildungsveranstaltungen - wie z. B. das jährliche Forum Kinderschutz - durchgeführt, in denen Möglichkeiten für den Aufbau eines funktionierenden Netzwerkes zur Früherkennung von Vernachlässigung und Missbrauch aufgezeigt werden.

Die Ärzteschaft wird auch in Zukunft für die gesunde Entwicklung unserer Kinder eine ganz zentrale Rolle einnehmen. Sie kann aber nicht für Versäumnisse innerhalb der Gesellschaft haftbar gemacht werden. Wir fordern daher nachhaltig, dass die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen geschaffen werden, mit denen von Vernachlässigung oder Gewalt bedrohte Kinder rechtzeitig identifiziert werden können und ihnen die notwendigen Hilfen zur Verfügung gestellt werden können. Kinder sind die Basis und Zukunft unserer Gesellschaft – sie müssen uns entsprechend viel wert sein.

Dr. med. Theodor Windhorst
Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe


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