Risikobelastungen erkennen
Hinweise auf Risikobelastungen ergeben sich in der Geburtsklinik durch Erkennung von spezifischen gesundheitlichen und psychosozialen Risikoziffern im Mutterpass, über den Einsatz eines Screeningbogens zur Erfassung von in der Geburtshilfe erkennbaren Belastungen, durch die Beobachtung einer auffälligen Mutter-Kind-Interaktion und eines auffälligen mütterlichen Verhaltens auf der Wöchnerinnenstation.
In der Kinderklinik, der kinderärztlichen Praxis und der Notfallambulanz können sich ebenfalls Hinweise auf Risikobelastungen ergeben.
Dabei sind zu beachten:
1. die gesundheitlichen und psychosozialen Belastungen im Mutterpass, siehe dort unter Ziffer 1, 2, 6, 7, 13, 29, 30 und 31,
2. die persönlichen Daten der Mutter wie Alter, z. B. unter 18 Jahren, Familienstand, z. B. alleinstehend; Kinderzahl, z. B. mehrere Kleinkinder; Geschwisterkinder leben in Pflegefamilien,
3. gesundheitliche Risikofaktoren, zum Beispiel chronische und psychische Erkrankungen der Familienmitglieder, die die Lebensqualität der Familie beeinträchtigen; Gewalt in der Partnerschaft und Herkunftsfamilie; Suchtverhalten der Mutter/Eltern sowie
4. Hinweise auf postpartale Depression
Das können z. B. folgende Items sein: 8):
- "Ich habe selber Schuld, wenn die Dinge nicht gut verlaufen"
- "Ich habe Angst oder bin besorgt ohne guten Grund"
- "Ich fühlte mich ängstlich oder panisch ohne guten Grund".
5. Psychosoziale Belastungen im Hinblick auf
- die finanzielle Situation: hohe Schulden, Erstausstattung des Babys kann nicht angeschafft werden, Grundversorgung ist nicht gesichert,
- die Partnersituation: durch Konflikte mit dem Partner, Trennung vom Partner,
- die eigene Person: Überforderung durch Haushaltsführung, Kindererziehung, Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt, Behördengänge, mangelnde Wertschätzung 7).
Erhöhte Gefährdungen lassen sich nicht auf einen Risikofaktor, sondern in der Regel auf die Kombination mehrerer Belastungen zurückführen 9). Dies ist zum Beispiel der Fall bei
- alleinstehenden Müttern mit finanziellen Problemen, Überforderung durch Doppelbelastungen (Haushaltsführung, Kindererziehung), bei mangelnder Unterstützung durch Familie, Freunde, sozialer Isolation und
- Migrantenfamilien mit Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichen und Wohnungsproblemen, mangelndem Vorsorgeverhalten, mangelnder Kommunikation.
Andere Risikofaktoren weisen bereits allein für sich genommen ein hohes Gefährdungspotential auf, sind aber ebenfalls zumeist kombiniert mit weiteren Belastungen. Hierzu zählen beispielsweise:
- Eltern mit psychischen Störungen, z. B. Depressionen, Psychosen, Borderline-Symptomatik,
- Eltern mit Gewaltkonflikten und Gewalt- und Heimerfahrungen in der eigenen Kindheit,
- Eltern mit Suchverhalten (Alkohol, Tabletten, Drogen).
6. Mangelhaftes Vorsorgeverhalten während der Schwangerschaft: fehlender Mutterpass, Vorsorgeuntersuchung bei weniger als 5 Vorsorgeuntersuchungen.
7. Mangelnde Unterstützung durch Familie, Freunde, keine Kontakte.
8. Erhöhte Fürsorge-Anforderungen durch das Kind bei
- ehemaligem Frühgeborenen,
- Mehrlingen,
- chronisch krankem Kind,
- behindertem Kind,
- entwicklungsgestörtem Kind,
- Kind mit schwierigem Temperament.
9. Gestörte Eltern-Kind-Interaktion
- negative Äußerungen der Eltern über das Kind,
- mangelnde Feinfühligkeit, wenig Kommunikation mit dem Kind, Nichtwahrnehmung frühkindlicher Signale (Blickkontakt, Lautieren, Lachen),
- wenig Interesse am Kind, Bevorzugung von Fernsehen und Handygesprächen,
- impulsiver, inkonsequenter Erziehungsstil.
10. Auffälliges Bindungsverhalten 10) (s. 8.2 Dokumentation)
- unsicher-vermeidend
- unsicher-ambivalent
11. Merkmale mütterlicher Vernachlässigung und Ablehnung im frühen Säuglingsalter (siehe Dokumentation 8.3 und 8.4)
12. Besondere Gefährdungszeiträume: Zusammentreffen von Risikobelastungen und riskanten Entwicklungsphasen, z. B. Regulationsstörungen, wie Fütter- und Schlafstörungen, auffälliges Trotzverhalten; beginnende Entwicklungsstörungen und Behinderung.
Bei allen Hochrisikofamilien ist auf das Vorliegen von Schutzfaktoren zu achten, die Risikobelastungen vermindern können: zum Beispiel Unterstützung durch Familie, Freunde, sicheres Bindungsverhalten, kontaktfreudiges Temperament des Kindes, überdurchschnittliche Intelligenz des Kindes.